Abtreibung in Deutschland: Der NS-Paragraph 219a und christlicher Fundamentalismus

Deutschlands Abtreibungsrecht gilt vielerorts als liberal. Dabei ist ein Schwangerschaftsabbruch hierzulande gemäß Paragraph 218 Strafgesetzbuch grundsätzlich eine Straftat. Selbst nach einer Pflichtberatung bleibt die Abtreibung verboten und die Frau eine Verbrecherin – nur eben straffrei. Doch auch Ärzt*innen, die  nur darauf aufmerksam machen, dass sie Abtreibungen durchführen, können sich strafbar machen. Paragraph 219a sei Dank. Trotzdem werden in Deutschland pro Jahr durchschnittlich rund 101.000 Abtreibungen durchgeführt. Dieses von dem NS-Regime eingeführte Gesetz wird seit 1933 von Rechtspopulisten und christlichen Fundamentalisten gestützt. Es ist nicht nur heuchlerisch, sondern birgt die große Gefahr, das grundsätzliche Abtreibungsrecht jederzeit zu kippen. Angriffe auf dieses „Abtreibungsrecht durch die Hintertür“ gibt es täglich. Und es werden täglich mehr.
Auch 2021 sind die meisten Abtreibungen in Deutschland Straftaten, die nicht bestraft werden. Zumindest in der Theorie. In Wirklichkeit versuchen christlich-fundamentalistische Aktivisten unermüdlich abtreibende Frauen zu stigmatisieren und abtreibende Ärzt*innen einzuschüchtern oder zu verklagen. Ein jüngster Fall zeigt, welch seltsame Blüten der unsägliche Paragraph 219a treiben kann.

Weil die Ärztin Alicia Baier dem feministischen Gunda-Werner-Institut der Heinrich-Böll-Stiftung vor einem Jahr ein Interview über die sogenannte „self-magaged abortion“ gab, erhielt sie Post von der Staatsanwaltschaft. Bei dem Begriff handelt es sich um medikamentöse Möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch, den Frauen selbstständig durchführen können. Das Strafverfahren wurde zwar nach einigen Monaten eingestellt, doch die Unsicherheit bleibt. Die Gesetzeslage zur medizinischen Aufklärung von Schwangerschaftsabbrüchen ist schwammig. Mit fatalen Folgen.

Doktor Kristina Hänel hatte vor einigen Jahren weniger Glück als ihre Kollegin. 2019 wurde sie nach einem vierjährigen Prozess und einer verlorenen Revision zu einer Geldstrafe von 2.500 Euro aufgrund des Paragraphen 219a verurteilt. Auf ihrer Webseite hatte sie medizinische Informationen zur Prozedur der Abtreibung veröffentlicht. Das Exempel der deutschen Justiz wurde statuiert. Der Staat macht ernst und die Botschaft ist klar: Wer über Abtreibungen informiert, ist dran. Im schlimmsten Fall droht übrigens eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren. 

Paragraph 219a: Ein Relikt aus der Nazi-Zeit zur Abschreckung von Ärzt*innen

Der Paragraph 219a wurde in seiner Ursprungsform im Jahre 1933 unter der Regierung von Adolf Hitler eingeführt. Möglich wurde dies durch das Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933, welches es dem Regime erlaubte, ohne Einschaltung des Parlaments Gesetze willkürlich zu erlassen. Abtreibungen passten so gar nicht in das Familienbild des NS-Regimes. Schließlich brauchte das Reich Kanonenfutter für die Front. 
 
Die Regelungen blieben im Kern auch nach dem Ende des Dritten Reiches in Kraft, da man keinen spezifischen NS-Gehalt feststellen konnte. Laut Journalisten wie Holger H. Lührig, Chefredakteur des zwd Politikmagazins, würde „der Paragraf 219a in seiner heutigen Version sicherlich einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht Stand halten„. Zudem stellt der Mann treffend fest: „Wesentlich scheint mir zudem, dass der § 219a aktuell instrumentalisiert wird, um ein Klima der Angst aufrecht zu erhalten und, wie die wachsende Zahl von Anzeigen gegen Ärztinnen zeigen, zu schüren. Auch 1933 diente die Neuregelung der Paragrafen 219 und 229 RStGB dazu, ein solches Klima zu erzeugen.“ Das AfD-Engagement gegen das Abtreibungsrecht sowie die Unterstützung der rechtsextremen Partei von fundamentalistischen (und ebenfalls rechtsextremen) Abtreibungsgegnern wie Pro Life, spricht Bände. Andererseits ist es wenig überraschend, dass die AfD an einem Relikt aus der Führer-Zeit festhält, macht es doch den Großteil ihrer Politik überhaupt erst aus. 
Auch Dr. Baier schätzt den eigentlichen Zweck des Paragraphen 219a ähnlich ein: Menschen, die sich im Bereich reproduktiver Rechte engagieren, sollen mundtot gemacht werden“, erklärte die Mitbegründerin und Vorstandsmitglied des liberalen Mediziner*innen-Netzwerks Doctors for Choice Germany.
 
Die erwünschte Wirkung blieb nicht aus. Bereits jetzt sehen viele Ärzt*innen und gar ganze Kliniken davon ab, Abtreibungen durchzuführen. Zu unklar ist die Gesetzeslage. Hinzu kommen Anfeindungen und Drohungen durch christlich-fundamentalistische Vereine, wie die bereits erwähnten Pro Life, die bei Abtreibungen allen Ernstes von einem „Babycaust“ sprechen, in Anlehnung an den Holocaust an 6 Millionen Jud*innen. In einigen Gebieten Deutschlands müssen Frauen zurzeit bis zu 200 Kilometer weit fahren, um eine Beratung zur Abtreibung zu bekommen. Die Termine sind schwer zu kriegen. Die geistige Belastung enorm. 
 
Eine unmittelbar Betroffene berichtete mir, dass ihr während einer Beratung im Gesundheitsamt nicht erlaubt wurde, eine Kopie oder auch nur Fotos der Liste mit abtreibenden Ärzt*innen anzufertigen, damit sie nicht „in falsche Hände geriete.“ Man müsse die eigenen Ärzt*innen schützen! Am Ende durfte sie sich lediglich drei Adressen aufschreiben. Ja, wir reden von Deutschland. 

„Werbung“ für Abtreibung ist in sich absurd

Was soll eine werbende Information zu Abtreibungen überhaupt sein und wo liegen die angeblichen Gefahren? Als würde eine „Bewerbung“ von Abtreibungen Frauen überhaupt erst zu diesem Schritt bewegen! Damit degradiert das deutsche Recht eine abtreibungswillige Frau zu einem Marketingopfer, welches sich unüberlegt zu teure Schuhe im Internet bestellt, weil eine angezeigte Werbung sie dazu verleitet hat. 
 
Die Vorstellung einer Abtreibungswerbung ist eine absurde Fehldeutung des geltenden Rechts (so fragwürdig sein Ursprung auch sein mag). Denn konkret ist im Paragraphen 219a von einer Bewerbung in einer „grob anstößigen Weise“ die Rede. Dazwischen zu unterscheiden sollte eigentlich nicht schwer sein: Auf der einen Seite steht eine neutrale Zusammenfassung der ärztlichen Beratungs- und Abtreibungsdienste und auf der anderen blinkende Pop-up-Leuchtreklamen, die einen schlimmstenfalls noch durch die Cookie-Einstellungen tagelang überall im Netz verfolgen. Und trotzdem wird von den Abtreibungsgegner*innen immer wieder letztere Absurdität suggeriert, vor der der Paragraph 219a  angeblich schützen soll. 

Die SPD hätte den Abtreibungsverbot abschaffen können und versagte

Tragischerweise bestand vor rund vier Jahren bereits ein konkreter Gesetzesentwurf der SPD zur Abschaffung des Paragraphen 219a und zwar vor der Bildung der Großen Koalition. Diesen Vorschlag zog die damalige Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles jedoch ohne Gegenleistung der Union bei den Koalitionsverhandlungen zurück. Damit knickte die Partei ohne konkrete Notwendigkeit vor den christlichen „Werten“ ihres Koalitionspartners ein. Eine freie Abstimmung ohne Fraktionszwang hätte mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Abschaffung des unsäglichen Paragraphen geführt, ohne dass die Union überhaupt etwas dagegen hätte tun können. Denn FDP, Linke und Grüne sprachen sich deutlich gegen 219a aus. Hätte, hätte…

Die Neufassung von 219a brachte keine Besserung

Zwar unterlag Paragraph 219a 2019 einer Neufassung, änderte aber nichts an dem Problem. Im Kern erlaubte die von CDU/CSU und SPD eingebrachte Änderung es Ärzt*innen, Krankenhäusern und Einrichtungen öffentlich darüber zu informieren, dass sie Abtreibungen durchführen. Auch der Hinweis auf weitere Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen von neutralen Stellen, wie z.B. der Ärztekammer, wurde erlaubt. Weitere Informationen, wie beispielsweise die Art der durchgeführten Abbrüche, blieben jedoch verboten.

Während sich an der rechtlichen Grauzone und der damit verbundenen Abschreckung nichts änderte, konnten sich Union und SPD auf die Schulter klopfen und mit Verweis auf die angebliche Verbesserung alle weiteren Versuche zur Abschaffung des Paragraphen abwinken. 

Mit der Mehrheit von 460 Nein-Stimmen gegen 184 Ja-Stimmen bei sechs Enthaltungen lehnten die Abgeordneten eine Vorlage der Linken zur Änderung des Strafgesetzbuches (Aufhebung des Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche) ab. 

Ebenfalls abgelehnt wurde ein Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Strafgesetzbuches – Aufhebung von Paragraf 219a StGB mit 458 Nein-Stimmen bei 185 Ja-Stimmen und fünf Enthaltungen. Ein Antrag der FDP, den Paragrafen 219a unverzüglich zu streichen und Informationen über Schwangerschaftsabbrüche zuzulassen, wurde mit der Mehrheit von CDU/CSU, SPD, AfD gegen die Stimmen der Linksfraktion, FDP und Grünen zurückgewiesen. Noch Fragen?

Bild: Der Schutz allen Lebens? Von wegen. Christliche Fundamentalisten zünden für ihre Überzeugungen Abtreibungskliniken an oder ermorden abtreibende Ärzt*innen.

Christliche Ideologie als Antreiber der Abtreibungs-Diskriminierung 

Woher kommt dieses Festhalten an einem solch offensichtlich unsinnigen Gesetz? Eine der möglichen Antworten gab die Lichtgestalt der christlichen Werte bei der Entgegennahme des Friedensnobelpreises. So sagte Mutter Theresa von Kalkutta in ihrer Dankesrede allen Ernstes: „Der größte Zerstörer des Friedens ist die Abtreibung.“ Abgesehen von der Absurdität eines Friedensnobelpreises für diese menschenverachtende Fundamentalistin, ist ihre Aussage kaum an Dummheit zu überbieten. 

Wie Evolutionsbiologe und Religionskritiker Richard Dawkins in seinem großartigen Buch „Der Gotteswahn“ erläutert, seien entschiedene Abtreibungsgegner fast immer tief religiös. Ehrliche Abtreibungsbefürworter richteten sich dagegen unabhängig davon, ob sie persönlich religiös seien oder nicht, meist nach einer nicht religiösen, konsequentialistischen Ethik. 

So ist es zu erklären, dass der christliche Fanatiker und Mitglied der Army of God (AOG) Paul Hill am 29. Juli 1994 den Abtreibungen durchführenden Arzt Dr. John Britton sowie seinen Leibwächter James Barrett vor Brittons Klinik in Pensacola (Florida) mit einer Schrotflinte ermordete. Danach stellte er sich der Polizei und gab an, er habe den Arzt erschossen, um für die Zukunft den Tod „unschuldiger Babys“ zu verhindern. 

Der später zum Tode verurteilte und hingerichtete Mörder zeigte keine Reue. In der Liga der christlichen Fanatiker stellt er gerade in den USA keine Ausnahme dar. In seinem bereits erwähnten Buch erzählt Dawkins von dem „amerikanischen Taliban“ Randall Terry, Gründer einer Organisation namens Operation Rescue, die Abtreibungskliniken und Ärzte einschüchtert. Dieser sagte: „Wenn ich oder Menschen wie ich das Land führen würden, solltet ihr euch besser aus dem Staub machen. Denn wir werden euch finden, wir werden euch vor Gericht stellen, und wir werden euch hinrichten. Ich meine jedes Wort davon ernst. Ich werde es zu einem Teil meiner Mission machen, dafür zu sorgen, dass sie vor Gericht gestellt und hingerichtet werden.“ 

Nur ein religiöser Fanatiker? Seit Anfang September ist im US-Staat Texas das sogenannte Herzschlag-Gesetz in Kraft, das die meisten Schwangerschaftsabbrüche verbietet. Es untersagt Abtreibungen, sobald der Herzschlag des Fötus festgestellt worden ist. Das ist in vielen Fällen bereits in der sechsten Schwangerschaftswoche möglich. Die meisten Frauen wissen zu diesem Zeitpunkt noch nichts von ihrer Schwangerschaft.

Der christliche Fundamentalismus ist nicht nur ein Problem der USA

Wer nun denkt, dass wir von solchen Verhältnissen in Deutschland weit entfernt sind, hat aktuell noch sicherlich recht. Ganz anders sieht es bei unserem europäischen Nachbarn Polen aus. Dort herrscht seit Anfang 2021 ein de facto totales Abtreibungsverbot vor. Selbst schwer fehlgebildete oder schwer erkrankte Föten dürfen seitdem nicht mehr abgetrieben werden. Es wird meine Leser*innen an dieser Stelle kaum überraschen, dass dieses Gesetz von der rechtskonservativen und christ“demokratischen“ PiS-Partei durchgeboxt wurde.

Wer immer noch glaubt, von diesen Verhältnissen seien wir weit weg, sollte sich folgende Tatsachen ins Gedächtnis rufen:

  • Unser Land wurde 16 Jahre von einer Union regiert, die gleich zwei Mal das Wort „Christlich“ im Parteinamen trägt und sich bis heute vehement weigert, den Paragraph 219a abzuschaffen und die Abtreibung zu entkriminalisieren. 
  • Markus Söder, zeitweise Deutschlands beliebtester Politiker (und de facto Bundeskanzler, wäre Laschet nicht zum Kandidaten aufgestellt worden) verlangte vor drei Jahren ein Kreuz in jeder bayerischen Behörde. Die „christlich-abendländische Prägung“ sollte seinem Wunsch nach Verfassungsrang bekommen. 
  • Die deutsche Staatsanwaltschaft weigert sich bis heute, die systematische sexualisierte  Gewalt gegen Kinder in der katholischen Kirche zur Anklage zu bringen.  
Diese unvollständige Liste ließe sich beliebig weiterführen. Die Pointe dürfte klar sein: Christliche Fundamentalisten sind global mit der politischen Rechten verbandelt und fest entschlossen, ihre mittelalterliche und besonders frauenverachtende Weltanschauung über alle Bürger*innen zu stülpen. Vielerorts hatten sie damit bereits Erfolg. 

Eine im Christentum fest verankerte Verachtung von Frauen

Es erfüllt mich immer wieder mit Abscheu und Verachtung, wie die christliche Religion weltweit ihre perversen Überzeugungen der Allgemeinheit diktieren will. Christliche Männer, die über den weiblichen Körper bestimmen, sind so alt wie das Alte Testament:

Siehe, ich habe eine Tochter, noch eine Jungfrau, und diese hat eine Nebenfrau; die will ich euch herausbringen. Die könnt ihr schänden und mit ihnen tun, was euch gefällt aber an diesem Mann tut nicht eine solche Schandtat!“ [Richter 19, 23-24]

Dass es im institutionellen Christentum durchaus viele Frauen gibt, die diese Weltsicht vertreten, macht das Ganze keineswegs besser. Auch die AfD wird von Frauen gewählt, die ihren Platz auf dieser Welt als gebärfreudige Hausfrauen offensichtlich mit Freuden annehmen. 

Kaum eine Frau nimmt eine Abtreibung auf die leichte Schulter. Die Entscheidung geht  mit einer großen seelischen Belastung einher. Dass man diese mutigen Frauen bei einer der vermutlich schwierigsten Entscheidungen ihres Lebens derart belästigt, behindert und bedrängt, ist schlichtweg unmenschlich und auf jeder Ebene verdammenswert. 

Erst im vergangenen Monat lehnte die Mehrheit der Bundesländer eine Abschaffung des Paragraphen 219a erneut ab. Berlin, Brandenburg und drei weitere Bundesländer hatten einen entsprechenden Antrag gestellt. Vielleicht ist die kommende Bundesregierung ja offener für diese essenzielle Ungerechtigkeit unserer Gesellschaft. Ohne Druck von unten wird aber auch hier nichts passieren. Macht Druck!

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