Weil die Ärztin Alicia Baier dem feministischen Gunda-Werner-Institut der Heinrich-Böll-Stiftung vor einem Jahr ein Interview über die sogenannte „self-magaged abortion“ gab, erhielt sie Post von der Staatsanwaltschaft. Bei dem Begriff handelt es sich um medikamentöse Möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch, den Frauen selbstständig durchführen können. Das Strafverfahren wurde zwar nach einigen Monaten eingestellt, doch die Unsicherheit bleibt. Die Gesetzeslage zur medizinischen Aufklärung von Schwangerschaftsabbrüchen ist schwammig. Mit fatalen Folgen.
Doktor Kristina Hänel hatte vor einigen Jahren weniger Glück als ihre Kollegin. 2019 wurde sie nach einem vierjährigen Prozess und einer verlorenen Revision zu einer Geldstrafe von 2.500 Euro aufgrund des Paragraphen 219a verurteilt. Auf ihrer Webseite hatte sie medizinische Informationen zur Prozedur der Abtreibung veröffentlicht. Das Exempel der deutschen Justiz wurde statuiert. Der Staat macht ernst und die Botschaft ist klar: Wer über Abtreibungen informiert, ist dran. Im schlimmsten Fall droht übrigens eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren.
Paragraph 219a: Ein Relikt aus der Nazi-Zeit zur Abschreckung von Ärzt*innen
„Werbung“ für Abtreibung ist in sich absurd
Die SPD hätte den Abtreibungsverbot abschaffen können und versagte
Tragischerweise bestand vor rund vier Jahren bereits ein konkreter Gesetzesentwurf der SPD zur Abschaffung des Paragraphen 219a und zwar vor der Bildung der Großen Koalition. Diesen Vorschlag zog die damalige Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles jedoch ohne Gegenleistung der Union bei den Koalitionsverhandlungen zurück. Damit knickte die Partei ohne konkrete Notwendigkeit vor den christlichen „Werten“ ihres Koalitionspartners ein. Eine freie Abstimmung ohne Fraktionszwang hätte mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Abschaffung des unsäglichen Paragraphen geführt, ohne dass die Union überhaupt etwas dagegen hätte tun können. Denn FDP, Linke und Grüne sprachen sich deutlich gegen 219a aus. Hätte, hätte…
Die Neufassung von 219a brachte keine Besserung
Zwar unterlag Paragraph 219a 2019 einer Neufassung, änderte aber nichts an dem Problem. Im Kern erlaubte die von CDU/CSU und SPD eingebrachte Änderung es Ärzt*innen, Krankenhäusern und Einrichtungen öffentlich darüber zu informieren, dass sie Abtreibungen durchführen. Auch der Hinweis auf weitere Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen von neutralen Stellen, wie z.B. der Ärztekammer, wurde erlaubt. Weitere Informationen, wie beispielsweise die Art der durchgeführten Abbrüche, blieben jedoch verboten.
Während sich an der rechtlichen Grauzone und der damit verbundenen Abschreckung nichts änderte, konnten sich Union und SPD auf die Schulter klopfen und mit Verweis auf die angebliche Verbesserung alle weiteren Versuche zur Abschaffung des Paragraphen abwinken.
Mit der Mehrheit von 460 Nein-Stimmen gegen 184 Ja-Stimmen bei sechs Enthaltungen lehnten die Abgeordneten eine Vorlage der Linken zur Änderung des Strafgesetzbuches (Aufhebung des Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche) ab.
Ebenfalls abgelehnt wurde ein Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Strafgesetzbuches – Aufhebung von Paragraf 219a StGB mit 458 Nein-Stimmen bei 185 Ja-Stimmen und fünf Enthaltungen. Ein Antrag der FDP, den Paragrafen 219a unverzüglich zu streichen und Informationen über Schwangerschaftsabbrüche zuzulassen, wurde mit der Mehrheit von CDU/CSU, SPD, AfD gegen die Stimmen der Linksfraktion, FDP und Grünen zurückgewiesen. Noch Fragen?
Christliche Ideologie als Antreiber der Abtreibungs-Diskriminierung
Wie Evolutionsbiologe und Religionskritiker Richard Dawkins in seinem großartigen Buch „Der Gotteswahn“ erläutert, seien entschiedene Abtreibungsgegner fast immer tief religiös. Ehrliche Abtreibungsbefürworter richteten sich dagegen unabhängig davon, ob sie persönlich religiös seien oder nicht, meist nach einer nicht religiösen, konsequentialistischen Ethik.
So ist es zu erklären, dass der christliche Fanatiker und Mitglied der Army of God (AOG) Paul Hill am 29. Juli 1994 den Abtreibungen durchführenden Arzt Dr. John Britton sowie seinen Leibwächter James Barrett vor Brittons Klinik in Pensacola (Florida) mit einer Schrotflinte ermordete. Danach stellte er sich der Polizei und gab an, er habe den Arzt erschossen, um für die Zukunft den Tod „unschuldiger Babys“ zu verhindern.
Der später zum Tode verurteilte und hingerichtete Mörder zeigte keine Reue. In der Liga der christlichen Fanatiker stellt er gerade in den USA keine Ausnahme dar. In seinem bereits erwähnten Buch erzählt Dawkins von dem „amerikanischen Taliban“ Randall Terry, Gründer einer Organisation namens Operation Rescue, die Abtreibungskliniken und Ärzte einschüchtert. Dieser sagte: „Wenn ich oder Menschen wie ich das Land führen würden, solltet ihr euch besser aus dem Staub machen. Denn wir werden euch finden, wir werden euch vor Gericht stellen, und wir werden euch hinrichten. Ich meine jedes Wort davon ernst. Ich werde es zu einem Teil meiner Mission machen, dafür zu sorgen, dass sie vor Gericht gestellt und hingerichtet werden.“
Nur ein religiöser Fanatiker? Seit Anfang September ist im US-Staat Texas das sogenannte Herzschlag-Gesetz in Kraft, das die meisten Schwangerschaftsabbrüche verbietet. Es untersagt Abtreibungen, sobald der Herzschlag des Fötus festgestellt worden ist. Das ist in vielen Fällen bereits in der sechsten Schwangerschaftswoche möglich. Die meisten Frauen wissen zu diesem Zeitpunkt noch nichts von ihrer Schwangerschaft.
Der christliche Fundamentalismus ist nicht nur ein Problem der USA
Wer nun denkt, dass wir von solchen Verhältnissen in Deutschland weit entfernt sind, hat aktuell noch sicherlich recht. Ganz anders sieht es bei unserem europäischen Nachbarn Polen aus. Dort herrscht seit Anfang 2021 ein de facto totales Abtreibungsverbot vor. Selbst schwer fehlgebildete oder schwer erkrankte Föten dürfen seitdem nicht mehr abgetrieben werden. Es wird meine Leser*innen an dieser Stelle kaum überraschen, dass dieses Gesetz von der rechtskonservativen und christ“demokratischen“ PiS-Partei durchgeboxt wurde.
Wer immer noch glaubt, von diesen Verhältnissen seien wir weit weg, sollte sich folgende Tatsachen ins Gedächtnis rufen:
- Unser Land wurde 16 Jahre von einer Union regiert, die gleich zwei Mal das Wort „Christlich“ im Parteinamen trägt und sich bis heute vehement weigert, den Paragraph 219a abzuschaffen und die Abtreibung zu entkriminalisieren.
- Markus Söder, zeitweise Deutschlands beliebtester Politiker (und de facto Bundeskanzler, wäre Laschet nicht zum Kandidaten aufgestellt worden) verlangte vor drei Jahren ein Kreuz in jeder bayerischen Behörde. Die „christlich-abendländische Prägung“ sollte seinem Wunsch nach Verfassungsrang bekommen.
- Die deutsche Staatsanwaltschaft weigert sich bis heute, die systematische sexualisierte Gewalt gegen Kinder in der katholischen Kirche zur Anklage zu bringen.
Eine im Christentum fest verankerte Verachtung von Frauen
„Siehe, ich habe eine Tochter, noch eine Jungfrau, und diese hat eine Nebenfrau; die will ich euch herausbringen. Die könnt ihr schänden und mit ihnen tun, was euch gefällt aber an diesem Mann tut nicht eine solche Schandtat!“ [Richter 19, 23-24]
Dass es im institutionellen Christentum durchaus viele Frauen gibt, die diese Weltsicht vertreten, macht das Ganze keineswegs besser. Auch die AfD wird von Frauen gewählt, die ihren Platz auf dieser Welt als gebärfreudige Hausfrauen offensichtlich mit Freuden annehmen.
Kaum eine Frau nimmt eine Abtreibung auf die leichte Schulter. Die Entscheidung geht mit einer großen seelischen Belastung einher. Dass man diese mutigen Frauen bei einer der vermutlich schwierigsten Entscheidungen ihres Lebens derart belästigt, behindert und bedrängt, ist schlichtweg unmenschlich und auf jeder Ebene verdammenswert.
Erst im vergangenen Monat lehnte die Mehrheit der Bundesländer eine Abschaffung des Paragraphen 219a erneut ab. Berlin, Brandenburg und drei weitere Bundesländer hatten einen entsprechenden Antrag gestellt. Vielleicht ist die kommende Bundesregierung ja offener für diese essenzielle Ungerechtigkeit unserer Gesellschaft. Ohne Druck von unten wird aber auch hier nichts passieren. Macht Druck!