35 Jahre Tschernobyl: Nichts ist ausgestanden

Diese Woche jährt sich der Super-GAU im Reaktor IV des Kernkraftwerks Tschernobyl zum 35. Mal. Die Katastrophe wird gerne zur Zäsur in Sachen Atomenergie verklärt. Doch 35 Jahre später wissen wir, dass davon keine Rede sein kann. Nichts wurde gelöst. 

Das AKW Tschernobyl explodierte am 26.04.1986 – ziemlich genau einen Monat vor meiner Geburt. Zunächst als Randnotiz in den Tageszeitungen des sowjetischen Propagandaapparates, ließ sich der Vorfall bald nicht mehr verbergen – auch wegen des Drucks aus dem Ausland. Außerhalb der Ukraine (damals natürlich ein Teil der UdSSR), waren es die Schweden, die bemerkten, dass etwas nicht stimmte. Die Messgeräte in einem ihrer Atomkraftwerke schlugen Alarm. Recht schnell wurde klar, dass die erhöhten Strahlungswerte nicht hausgemacht sein konnten. Der Wind wies die Skandinavier zum
Verursacher: Tschernobyl.  

Der Strahlung sind Nachrichtensperren egal

Natürlich wussten die Ukrainer recht schnell Bescheid. Zu große Mengen an Mensch und Material wurden mobilisiert und auf den Weg Richtung Prypjat geleitet. Trotz aller Bemühungen ließ sich das nicht lange geheim halten. Und so strömten Gerüchte durch die Straßen von Kiew. Etwas Großes sei im Gange. Etwas Schlimmes. Details bekam man nur selten, da die Beteiligten der strengen Schweigepflicht unterlagen, deren Missachtung bestenfalls Gefängnis verhieß. Doch die Bus-Kolonnen mit Tausenden von Menschen sprachen auch ohne offizielle Regierungsangaben eine deutliche Sprache für die Bewohner*innen der Millionenstadt.  

So kam es, dass meine Mutter – hochschwanger mit mir – nach St. Petersburg (damals Leningrad) zu Verwandten floh. Hauptsache weit weg, bis sich irgendwas geklärt hätte. So hat der bis heute glühende Reaktor IV mein Leben verändert, bevor es überhaupt begonnen hatte. In meinem Ausweis wird der
Geburtsort für immer St. Petersburg bleiben. Und immer, wenn ich es sehe, denke ich an den Grund.

Nichts ist ausgestanden

Heute erfreut sich Prypjat, die evakuierte Arbeiterstadt neben dem Kraftwerk, hoher Beliebtheit bei Touristen aus aller Welt. Es gibt diverse offizielle Touren durch die 30 km im Radius reichende Sperrzone rund um das AKW. Ein großer Teil der Strahlung wurde von den Touristenrouten abgewaschen, entwich in die Atmosphäre oder sickerte tief ins Erdreich. Der neue Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigte vor einiger Zeit an, den Tourismus in der Region massiv ausbauen zu wollen. Indes sollen große Teile der Stadt Prypjat bereits aufgeteilt und verkauft sein. Wilde Tiere sind in die Zone zurückgekehrt, Pferde, Eber, Wölfe. Für Forscher*innen stellt die abgesperrte Zone ein spannendes und einmaliges Untersuchungsfeld dar. Es klingt, als sei das Reaktorunglück ausgestanden und die Lehren daraus gezogen. Eine tückische Illusion.

2020. Tschernobyl brennt. Wieder. Diesmal ist das Feuer jedoch nicht im Reaktor selbst, sondern in den Feldern drumherum. Und es nähert sich den hochverstrahlten Wäldern sowie Giftmülldepots aus der Havarie. Der Wind weht Richtung Kiew. Nur unter großen Kraftanstrengungen der Feuerwehr und
Glück mit dem Regen ließ sich etwas verhindern, dessen Tragweite den meisten Menschen offenbar nicht klar ist. Und während unsere Sommer kontinuierlich wärmer werden, steigt die Gefahr eines großflächigen Brandes in der Sperrzone rund um Tschernobyl immer weiter an.

Immerhin ist der Reaktor seit 2019 mit dem sogenannten New Safe Confinement umhüllt. Dabei handelt es sich um eine neue Schutzhülle über dem alten Sarkophag, der damals notdürftig errichtet wurde. Trotz des brüchigen Sarkophags aus den 80ern, dauerte es bis 2004 – fast zwei Jahrzehnte – bis die europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) zusammen mit 40 Ländern geschätzte
2 Milliarden aufbrachten, um die neue Hülle bauen zu lassen. Wegen der hohen Strahlung musste diese etwas abseits des Reaktors errichtet und danach auf Grafitschienen drüber geschoben werden. Damit ist es das bis dato größte bewegliche Bauwerk der Menschheit mit jährlichen Unterhaltungskosten von rund 8 Millionen Euro.

Doch auch diese Hülle hält nur 100 Jahre und wie Insider berichten, schirmt auch sie die Strahlung innerhalb des Reaktors nicht vollständig ab. Bei dem GAU 1986 sind lediglich 4 Prozent des gesamten Brennstoffs aus dem Reaktorkern entwichen. Der Großteil ist demnach nach wie vor dort. Strahlung
ist geduldig.

Menschen, die heute in der Zone arbeiten, raten von touristischen Reisen dorthin ab. Alles unter der Hand, da auch sie der Schweigepflicht unterliegen. Doch der O-Ton ist klar: Haltet euch möglichst fern von dem Ding, von der ganzen Gegend.

KPP Ditjatki, Eugen vom Dach an der Absperrung in die Tschernobyl Zone
Bild: Ich am Kontrollpunkt Ditjatki vor einigen Jahren. Weiter kommt man ohne Sondergenehmigung nicht. Die Straßen führen ins Nichts oder sind mit Sperren gesichert. Die Dörfer drumherum meistens verlassen. Alles im 30 km Radius rund um den Reaktor ist abgesperrt. 

Abbrennen lassen oder ins Meer kippen

Der große Unterschied zwischen den Havarien in Tschernobyl und Fukushima ist: Das japanische Kraftwerk hatte eine bessere PR-Abteilung. Denn ansonsten ist es kaum zu erklären, dass wir 35 Jahre nach dem Vorfall in der ehemaligen Sowjetunion allen Ernstes darüber sprechen, radioaktiv verstrahltes Kühlwasser einfach ins Meer zu leiten. Eine Million Tonnen. Zwar soll es aufgearbeitet werden, doch über die Auswirkungen diverser verbleibender Elemente wissen wir entweder zu wenig oder schlichtweg nichts.

Indes bauen viele Länder ihre Atomenergie massiv aus und versuchen sie tatsächlich als nachhaltige und umweltfreundliche Energiequelle in die Köpfe der Bürger*innen zu hämmern. Was die Nachhaltigkeit betrifft, kann man nicht einmal widersprechen. So hat Deutschland trotz beschlossenem Ausstieg aus der
Atomenergie bis dato keine einzige geeignete Lagerstelle für den über die Jahrzehnte entstandenen und hochgefährlichen Atommüll gefunden. Dieser wird von Stollen zu Stollen gekarrt – ohne Aussicht auf eine baldige Heimat. Dabei geht es um eine sichere Verwahrung von lediglich etwas mehr als EINER MILLION JAHRE. Wäre doch gelacht.

Brennende radioaktive Wälder, Millionen Tonnen kontaminiertes Wasser im Meer, fehlende Lagerungsmöglichkeiten für Atommüll. Und die Menschheit spaltet fröhlich weiter. Was kann da schon schief gehen?

***

Mein persönliches Denkmal an die Opfer der Tschernobyl-Katastrophe:

Pripjat – Liquidators (Lyrics von mir)

Tons of burning graphite
Blowing up the sky
Spreading the deadly disease
A damage for eternity
A slow way to die
Time will bring no release
The chain reaction is raging
Bring hell to earth
An incident no one can reverse
But they are the chosen ones
The honour to serve
The task is to liquidate death!

When technology fails
It’s time for us to act
40 seconds of glory
And then, we die!
Six hundred thousand heroes
Working side by side
We are the Liquidators
Our country’s pride!

The reactor keeps burning
No chance to control
Even the machines destroyed
So they use their bare hands
A shovel of sand
Desperate containment
An unknown threat
Based on a lie
A medal the price for a life
No hero tales
No songs of glory
Even after decades no one is sorry.

I can taste the iron in my mouth
And realize that I want survive
Because it is the taste of death

 

 

Ein Gedanke zu „35 Jahre Tschernobyl: Nichts ist ausgestanden

  • Rufus
    Februar 20, 2022 um 9:25 pm

    Medl!

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