Sound Shape Collective: Schweigen, Fühlen, Hören

Sie schaut mir lange und tief in die Augen. Ich starre zurück. Fasziniert, gebannt, voller unbekannter Erregung. Ihr Blick ist neugierig und forschend, aber auch leicht verunsichert. Immer wieder huscht der Anflug eines Lächelns über unsere Gesichter. Dann fängt sie an zu singen. Nur für mich. Und die Welt um uns herum verschwimmt, während ich mich in einem emotionalen Rausch verliere. Und die ganze Zeit über weichen unsere Blicke einander für keine Sekunde aus.

Was nach einem dürftig geschriebenen Erotik-Schmöker aus der Hausfrauenabteilung klingt, ist in Wirklichkeit die Beschreibung einer meiner bisher intensivsten Konzerterfahrungen. Denn diese und drei weitere Begegnungen erlebte ich vor einer Woche im Kölner Wandelwerk im Rahmen der 1:1 Konzerte des Sound Shape Collectives
 
Das Konzept: Eine Stunde lang besucht man nacheinander vier Räume. In jedem davon wartet ein(e) Musiker*in. Miteinander sprechen soll man nicht. Und bevor es mit der Musik losgeht, sitzt man sich gegenüber und schaut sich in die Augen, schwingt sich aufeinander ein. Dann beginnen die Künstler*innen ihre Improvisation. Nur für einen selbst. Von Angesicht zu Angesicht.

Wandelwerk Köln: ein aus der Welt gefallener Ort

Vom Wandelwerk habe ich vorher noch nie gehört. Es befindet sich in Köln-Nippes, dem unschönen Teil der Stadt. Die meisten verdreckten Imbissläden scheinen schon vor Corona dichtgemacht zu haben, während über den Dächern allgegenwärtig das Paschas Bordell als hässliches Wahrzeichen des Viertels hervorragt. Der Nachmittag ist grau und schwer – das aufziehende Gewitter kann man förmlich schmecken. 
 
Das Wandelwerk befindet sich in einem ehemaligen Autohaus von Nissan, was dem Ganzen einen Hauch von besetzten Häusern gibt. Der Name des Ortes ist schlicht auf die ehemalige Logosäule des Autobauers gesprayed. Auch sonst atmet das Gebäude nach wie vor seinen ursprünglichen Zweck durch jede Pore aus. Doch es ist genauso offensichtlich, dass sich Kreative hier eingefunden haben. Die weitläufigen Räume sind vollgestopft mit selbst gemachter Deko, Sofas, Paletten und kleinen Kunstgegenständen jeder denkbarer Art. Es gibt kafkaeske Open-Space-Büros, deren Tische man offensichtlich selbst gezimmert hat, eine Fahrradwerkstatt und Räume, deren aktuelle Funktion sich einem nicht erschließt. Es ist ein Ort, der dem heutigen Anlass auf den Leib geschnitten scheint. 
 

Vier Räume – vier Künstler – vier Zuschauer

Auf meinem ausgeteilten Zettel stehen vier Räume mit einer Uhrzeit. Innerhalb einer Stunde sind jeweils 15 Minuten pro Raum vorgesehen. Ich weiß nur, dass ich warten soll, bis man mich hineinbittet. Dass man nicht sprechen sollte und dass ich alleine mit der hinter der Tür wartenden Person sein werde. Als ein freundlicher Mann Anfang 30 mich durch Gesten auffordert einzutreten, komme ich in einen kleinen, kaum 20 Quadratmeter bemessenden Raum. Vor dem Fenster ist ein Drumset aufgebaut, davor steht ein Stuhl. 
 
Sound Shape Collective, Menschen liegen lächelnd auf dem Boden, Kopf zu Kopf
 
Beim Eintreten schaue ich mich unsicher um und breche sofort das Schweigen. „Soll ich mich hierhin setzen? Und kann ich die Maske abnehmen?“ Freundlich macht mir mein Gegenüber mit Gesten klar, dass beides in Ordnung ist. Natürlich – ich soll ja nicht sprechen. Als ich seiner Einladung folge und mich ihm gegenüber setze, wird es sofort intensiv. Er hat die Hände in seinem Schoß und schaut mich an. Ein Lächeln huscht immer wieder über seine Mundpartie. Ich verstehe, was von mir erwartet wird und lasse mich gerne darauf ein. 
Die Gefühle strömen sofort durch mich durch. Diese Art der unerwarteten Intimität mit einem Fremden reißt mich sofort mit. Ich genieße diesen ungewohnten Moment, bin aber auch wahnsinnig aufgewühlt. Männer schauen sich nur selten in die Augen. Meistens strahlt das Aggressivität aus. Hier ist es völlig anders. Wir erforschen uns. Plötzlich spüre ich jeden Muskel meiner Gesichtsmimik. Blinzele ich zu viel? Starre ich blöd? Was macht eigentlich mein Mund da die ganze Zeit? Soll ich dem Drang zu lächeln nachgeben? Wie lange machen wir das jetzt? 
 
Nach wenigen Minuten, in denen der junge Mann scheinbar nachdenklich wird, nickt er mir zu. Und fängt zu spielen an. Es ist die Mischung aus einem Jam und einigen Percussion-Einlagen. Am Ende streicht er mit dem Bogen eines Cellos (?) über seine Becken und erzeugt irre Töne. Nach rund 10 Minuten – ich weiß es nicht genau – hört er auf. Er lässt sein Set ausklingen und nickt mir freundlich zu. Es ist vorbei. Diese Improvisation war nur für mich. Er wird sie heute in der Form für niemanden wiederholen. Ich atme aus, schüttele mich. Im Stehen gebe ich ihm mein bestes, dankbarstes Lächeln, verbeuge mich und gehe auf Gummiknien raus. 

Der extremste Gegenentwurf zu einem Festivalkonzert

Als Rockmusiker bin ich größere Bühnen und laute Menschenmassen gewöhnt. In dieser Form spiele und konsumiere ich den Großteil der Livemusik in meinem Leben. Was ich im Verlauf dieser Stunde erlebe, ist der extremste Gegenentwurf dazu. Eins zu eins. Eine wunderbare Metapher für die Coronazeit. Ich erlebe die in der Einleitung beschriebene Sängerin, die mit sphärischen Gesängen die vermutlich intensivste Erfahrung ist, weil sie sich auf kein Instrument konzentrieren muss und der Blickkontakt die ganze Zeit über nicht abreißt. Ein weiterer Mann spielt mir ein wunderschönes Klavierstück vor, zu dem er vorher einige Percussion-Einlagen auf den Klaviersaiten aufführt. Am Ende erzeugt eine junge Frau mit ihrem Saxofon und einer Loopstation die Klänge eines Urwaldes, die sie dann bei ihrem melancholischen und kraftvollen Spiel begleiten. 
 
Als ich mich wieder mit meiner Begleitung treffe, sehe ich ihr an, dass wir beide unter einem sehr ähnlichen Eindruck stehen. Erst nach und nach können wir uns über das Erlebte austauschen. Zunächst laufen wir schweigend nebeneinander. Spüren nach. Und lächeln. Dann erinnern wir uns an ein Gespräch über ASMR, einem wenig erforschten Phänomen, bei dem es um die Erfahrung eines kribbelnden, angenehm empfundenen Gefühls auf der Haut geht. Wir beide haben es heute mehrmals gefühlt. 
 
Das Leben hört nicht auf, mich zu überraschen. 
 
Zwei Frauen im Raum mit Holzmöbeln, eine steht mit einem Saxofon, Sound Shape Collective
 
Besetzung Sound Shape Collective:
 
Esther van Maanen – Gesang
 
Susanne Hirschmann – Gesang
 
Inga Rothammel – Saxophon
 
Kim Kamilla – Cello
 
Christian Pensel – Cello, Gitarre, Flöte
 
Max Kelm – Klavier
 
Rocco Romano – E-Gitarre
 
Hendrik Eichler – Schlagzeug

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