Aktuell ist der katastrophale Rückzug der deutschen Truppen aus Afghanistan in aller Munde. Zurecht, denn auch hier hat die amtierende Bundesregierung erneut auf ganzer Linie versagt. Nicht nur die Tatsache, dass man Verbündete und gar eigene Bürger vor Ort zum Sterben zurücklässt, macht fassungslos. Auch der widerliche Versuch eines Armin Laschets, das Thema für den eigenen Wahlkampf zu missbrauchen, macht klar, in welchen Zustand sich die sogenannte Spitzenpolitik des Landes zurzeit befindet. Und während die GroKo noch vor wenigen Wochen alle Initiativen zur Evakuierung des Personals blockierte und Innenminister Seehofer keine erhöhte Gefahr für die Abschiebung nach Afghanistan sah, steht nun fest: Nach 20 Jahren Afghanistan bleibt nichts übrig, als ein kolossales Scheitern auf Kosten der Zivilbevölkerung.
Doch was sagen die Soldat*innen selbst, die in dem Land gedient haben? Deren Kamerad*innen in einem Krieg gestorben sind, den die eigene Regierung bis heute nicht als solchen anerkannt hat? Ich habe mich mit meinem alten Schulfreund Andreas Simon (35) unterhalten, der gleich mehrere Einsätze am Hindukusch absolviert hat. Seine Bilanz ist ernüchternd.
EvD: Andreas, wann und wo verliefen deine Auslandseinsätze in Afghanistan?
Andreas Simon: Meinen ersten Einsatz in Afghanistan hatte ich 2014 bis 2015. 2016 folgte der Zweite. Dort war ich als Oberfeldwebel der Feldjäger in Mazar-e-Sharif stationiert. Das ist ziemlich weit nördlich, nicht weit von den Grenzen zu Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan. Das Campstand unter deutscher Leitung, allerdings waren dort sehr viele Nationen vertreten.
EvD: Was waren deine Aufgaben dort?
Andreas Simon: Mein Auftrag beschränkte sich auf den Bereich der Lagersicherung. Konkret war ich für den Personenschleusenzugang verantwortlich. Dabei handelt es sich um ein System zur Personenkontrolle ohne die Gefährdung des eigenen Personals.
EvD: Also Sprengstoffsuche bei eventuellen Selbstmordattentätern?
Andreas Simon: Ganz genau. SSBDS – Stand-off Suicide Bomber Detection System, so der offizielle englische Name. Es war damals noch sehr neu und ich war der erste Systemadministrator, der damit zu tun hatte.
EvD: Was war die konkrete Aufgabe der Bundeswehr vor Ort als du dort warst?
Andreas Simon: Der ISAF-Auftrag [International Security Assistance Force]. Wir hatten hoheitliche Aufgaben im Land und sollten das Land quasi dazu anleiten, selbstständig zu werden. Das lief auf militärischer, aber auch politischer Ebene, wobei mir da aus meiner Froschperspektive die konkreten Einblicke fehlen. Prinzipiell waren wir auf Bitten der amtierenden afghanischen Regierung vor Ort.
EvD: Eben die Regierung, die gerade auf der Flucht ist?
Andreas Simon: Richtig. Es gab eine offizielle Anfrage der afghanischen Regierung an die internationale Gemeinde zur Unterstützung bei der Bekämpfung der Taliban. Dafür wurden uns auch alle nötigen Freiheiten gewährt. Beispielsweise konnten wir bei Bedarf aktiv in den Verkehr eingreifen.
Weiterhin sollten wir die afghanischen Sicherheitskräfte dazu anleiten, zusehends selbstständiger zu werden. Mit Ablauf des Jahres 2014 war man bereits der Meinung, dass dies erfüllt wurde.
EvD: Heißt es, dass die Ausbildung der Afghanen Ende 2014 gestoppt wurde?
Andreas Simon: Nein. Jedoch lief die ISAF-Mission zu dieser Zeit aus und wurde zum 1. Januar 2015 durch die neue Mission RS – Resolute Support – ersetzt. Das hat uns in vielen Hinsichten eingeschränkt. Ab diesem Zeitpunkt unterlag die Handlungshoheit den afghanischen Kräften. Wir dienten nur der
Unterstützung, Anleitung und Ausbildung. Spezielle Missionen wie die des KSK, bei denen es beispielsweise um die Festsetzung gesuchter Terroristen oder die Geiselbefreiungen ging, liefen zwar weiter, aber außerhalb unseres Auftrags.
EvD: Welchen Eindruck machte das Land auf dich?
Andreas Simon: Ich fand es recht überwältigend. Einen krasseren Kontrast zu Deutschland kann man sich kaum vorstellen. Das Land ist wunderschön und anders als ich es mir vorgestellt hatte. Man glaubt gar nicht, wie bunt und grün eine Wüste sein kann! Auch das Klima war angenehm – abgesehen
von den Sandstürmen und der brütenden Hitze.
Die Menschen waren sehr gastfreundlich und nach meiner persönlichen Wahrnehmung auch sehr froh darum, dass die internationale Gemeinschaft vor Ort war. Die Sorge vor unserem Abzug war groß. Es war ein offenes Geheimnis, dass die Taliban nicht besiegt waren.
EvD: Hattest du Gelegenheit, die Einwohner von ihrer persönlichen Seite kennenzulernen?
Andreas Simon: Ja, diese Momente gab es zwischendurch. Man sprach über vieles, vor allem aber Religion. In Afghanistan ist es ein großes Thema. Es gibt keinen ungläubigen Afghanen, zumindest habe ich keinen kennengelernt. Alkohol ist für sie ein absolutes Tabuthema und ein der größten Sünden. Gleichzeitig sind sie aber auch anderen Weltanschauungen gegenüber aufgeschlossen. So waren sie anderen Religionen gegenüber tolerant. Was sie nicht verstehen konnten, ist, wie man komplett ungläubig sein kann.
EvD: Wie grenzt sich diese stark religiöse Bevölkerung von den Taliban, die man ja durchaus als Fanatiker bezeichnen kann?
Andreas Simon: Die Taliban sind Terroristen, die in ihren Augen Ungläubige oder Feinde des Scharia-Staates hemmungslos töten. In ihrer Welt haben Frauen keine Rechte und sind so viel wert wie ein Hund, der dort als ein sehr schmutziges Tier gilt.
Einer meiner Dolmetscher sagte zu mir: „Wenn diese Taliban nicht bald verschwinden, greife ich selbst zur Waffe.“ Dabei war es der friedlichste Typ, den ich in der ganzen Zeit kennengelernt habe.
EvD: Die Taliban waren also auch während deiner Anwesenheit dort aktiv?
Andreas Simon: Ja. Es sind irreguläre Kräfte. In einem normalen Konflikt zwischen Staaten sind die Feinde klar zu erkennen. Das ist dort anders, es gibt keine reguläre Streitmacht. Dort den Feind zu
identifizieren ist unmöglich. Jeder ist ein potenzieller Taliban, der dir Böses will.
2014 hatte man ihnen eine Amnestie angeboten, um sie in den demokratischen Prozess einzugliedern. Bei uns würde man es Integration nennen. Das Ganze war naiv. Wie soll man mit einem solchen Angebot einen indoktrinierten Fanatiker überzeugen? Außerdem war es finanziell nicht lukrativ.
Die Taliban zahlen besser als die afghanische Regierung, bei der Korruption ein großes Problem darstellt. Die USA hat Milliarden in das Land gepumpt, um es zu stabilisieren. Und am Ende ist absolut
nichts herausgekommen. Wenn man sich die Villen in Kabul anschaut, die sich die Obrigkeiten gebaut haben, wird einem vieles klar. Es gibt keine funktionierende Kontrollinstanz, niemand hat irgendwelche juristischen Folgen wegen der Korruption zu befürchten.
EvD: Woher kamen die Taliban denn aktuell wieder her?
Andreas Simon: Sie waren ja nie weg. Außerdem gibt es um Afghanistan herum diverse Staaten, die sie unterstützen. Beispielsweise Pakistan oder Iran. Auch im Land selbst gab es viele Sympathisanten, die dafür ganz unterschiedliche Gründe hatten.
Man darf nicht vergessen, dass Afghanistan in der heutigen Form ein Produkt der britischen Kolonialzeit ist. Sie zogen eine beliebige Grenze und sagten: „Das ist jetzt Afghanistan.“ Selbst der Name kommt von ihnen. Und es gibt viele unterschiedliche Völker in diesem Land. Die Mehrheit sind Paschtunen, es gibt aber auch Usbeken, Tadschiken, Turkmenen und so weiter. Sie alle haben eine eigene Sprache. Doch die Macht haben die Paschtunen und es gibt kein wichtiges Amt, in dem sie nicht das Sagen haben. Und die Taliban sind ausnahmslos Paschtunen.
EvD: Warum waren sie militärisch so erfolgreich?
Andreas Simon: Na, sie haben gerade freies Spiel. Die
internationalen Bollwerke gegen sie sind weg. Die Afghanen selbst haben
furchtbare Angst vor den Taliban. Sie werden beinahe dämonisiert und als etwas
Übermenschliches und Böses wahrgenommen.
EvD: Aber der Westen war doch 20 Jahre vor Ort, um afghanische Sicherheitskräfte auszubilden!
Andreas Simon: Es spielen viele Faktoren eine Rolle. Zunächst ist da die Mentalität des Landes, die man mit „komme ich nicht heute, komme ich morgen“ zusammenfassen kann. Bei der Ausbildung der afghanischen Polizisten hätten sich die meisten die Hände über dem Kopf geschlagen. Es fehlt
an entsprechender Bildung, viele sind Analphabeten. Das ist für uns Europäer nur schwer nachzuvollziehen.
EvD: Trotzdem bleibt die Frage, warum man die Taliban kaum bekämpft hat. Die Folgen ihrer Machtergreifung waren ja allen bekannt.
Andreas Simon: Ja, es wirkt so, als hätten sie einfach ihre Waffen fallen gelassen. Viele haben es mit Sicherheit auch getan, denn sie haben nicht nur um sich selbst, sondern auch um ihre Familien gefürchtet. Davor machen die Taliban kein halt. Bist du ein Verräter, ist deine Familie ein Verräter. Und dieses Risiko wollten viele nicht eingehen.
EvD: War euch als Soldaten vor Ort klar, dass ihr im Prinzip Sisyphos-Arbeit leistet?
Andreas Simon: Aus meiner Sicht war unsere Anwesenheit absolut notwendig, wenn man mal die Gründe für den Einmarsch in das Land einmal ausblendet. Das Bild der deutschen Bevölkerung war ein anderes – man hat nicht verstanden, was wir da machen. Es wirkte wie Geldverschwendung für den Bau von Brunnen und anderen Quatsch. Das hat auch die Bundesregierung zu verantworten, die sich geweigert hatte, den Einsatz Krieg zu nennen. Denn genau das war es. Dabei hat der Präsenz der Truppen für eine starke Eindämmung der Taliban-Aktivitäten gesorgt und somit die Zivilbevölkerung geschützt.
Außerdem hatte man die Mittel, das Land in eine bestimmte Richtung anzuleiten. Es ging nicht darum, einen westlichen Standard einzuführen. Jedoch darum, Afghanistan weitestgehend zu befrieden.
EvD: Hätte mehr Zeit denn wirklich was gebracht? Immerhin war die Bundeswehr 20 Jahre vor Ort.
Andreas Simon: Ich denke schon. Allerdings reden wir hier von einem halben Jahrhundert oder länger. Bis die Bevölkerung überhaupt genügend Bildung und Verständnis für demokratische Prozesse entwickelt, dauert es sehr lange. Entsprechend hat aktuell noch oftmals das Verständnis dafür gefehlt, was die demokratischen Vorzüge überhaupt sind. So etwas dauert.
EvD: Was hältst du von der aktuellen Form des deutschen Rückzugs aus dem Land? Etwas polemisch formuliert: Warum hat man das Bier vor den Menschen evakuiert, die der Bundeswehr aktiv geholfen haben?
Andreas Simon: Aus politischer Sicht hat die Bundesregierung gar keinen Spielraum, nachdem die USA den Abzug beschlossen haben. Allerdings finde ich es beschämend, dass dabei nicht für die Sicherheit aller Mitarbeiter gesorgt wurde, die aktiv an der Unterstützung der Truppe gearbeitet haben.
Ich denke, dieser Abzug ist ein geopolitischer Selbstmord der Bundesregierung. Sollte die Bundeswehr in der Zukunft einen Auftrag bekommen, bei dem sie auf die Unterstützung der lokalen Bevölkerung angewiesen wäre, wird man sich an Afghanistan erinnern.
EvD: Du hast mit diesen hilfsbereiten Menschen gearbeitet. Kann man sagen, dass nun ihr Todesurteil unterschrieben wurde?
Andreas Simon: Ich hoffe nicht, aber ich fürchte schon. Sollten sie ihre Arbeit für uns nicht irgendwie verschleiern können, sieht es schlecht aus. Der normale Afghane, wie ich ihn kennengelernt habe, zieht sich westlich an, geht ins Fitnessstudio, lässt sich eine moderne Frisur machen und raucht ab und an einen Joint. So habe ich sie kennengelernt. Man konnte auch über alles mit ihnen sprechen, wenn es nicht gerade Gotteslästerung war. So können sie sich alle nun nicht mehr sehen lassen. Gerade Kabul ist sehr modern geworden. Frauen haben ihre Haare gezeigt. Das alles kann jetzt dafür sorgen, dass sie ermordet werden.
EvD: Die Bevölkerung wusste, dass sie damit ein Risiko eingeht. War es Mut oder Leichtsinnigkeit?
Andreas Simon: Dass wir mal abziehen würden, war klar. Es wusste aber niemand wann. Natürlich hat man sich auf unserer Anwesenheit ausgeruht. Auch die Politik. Allerdings wollten die Menschen einfach leben. In Afghanistan gilt der Leitspruch „inschallah“ – „So Gott will“. Danach wurde auch gelebt. Dieser Prozess der Liberalisierung war aber auch schleichend und es gilt ja auch nicht überall. Nicht alle fanden die Verwestlichung gut.
EvD: 20 Jahre Afghanistan für die Bundewehr VS die letzten zwei Wochen. Wäre es übertrieben zu sagen, dass alles umsonst war?
Andreas Simon: Es wäre nicht übertrieben. Es war alles umsonst! Alle, die in Afghanistan gefallen sind oder an Körper und Geist verwundet zurückkamen, haben es für nichts getan. Jeder, der dort etwas
geleistet hat, denkt sich gerade: „Wozu?“
Für die Bundeswehr selbst war es vermutlich lehrreich aus militärischer Sicht. Man konnte Taktiken und Ausrüstung prüfen und auch auf der Führungsebene gab es wertvolle Erkenntnisse.
EvD: 2020 bist du aus der Bundeswehr ausgetreten. Wenn dem nicht so gewesen wäre – hätten dich die aktuellen Ereignisse zu dieser Entscheidung bewegt?
Andreas Simon: Ich denke nicht, nein. Der Auftrag der Bundeswehr ist das eine, der Job als Soldat ist das andere und dann ist da noch die Politik selbst. Solange die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist, hat sie sich den Entscheidungen des Volkes zu fügen. Darauf hatte ich damals meinen Schwur geleistet.